Es ist eine Erzählung, wie man sie dieser Tage immer wieder hört: Die Bundeswehr sei in einem verheerenden Zustand. Es fehle an Personal, es fehle an Material. Waffen und Geräte seien nicht vollständig einsatzfähig. Deutschland sei nur bedingt abwehrbereit. So zumindest steht es in einem ‚Spiegel‘-Artikel über die Bundeswehr. Anlass war eine NATO-Übung, die einen atomaren Angriff Russlands auf Westeuropa simuliert hat. Zitat: „Es fehlte an allem – an Offizieren, Unteroffizieren, Waffen, Kasernen, Übungsplätzen.“ und „Auch die Nato weiß, dass die Bundesrepublik in absehbarer Zeit eine derartige Streitmacht nicht aufstellen kann. Es fehlt an Soldaten. Es fehlt an Geld.“.
Der Artikel ist von 1962.
„Bedingt abwehrbereit“ heißt der Text, der im Anschluss zur Spiegel-Affäre führte. Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß ließ die Spiegel-Redaktion durchsuchen und Journalisten inhaftieren. Kurze Zeit später musste der CSU-Politiker zurücktreten. Seine Partei verbreitete daraufhin, der Spiegel habe mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB zusammengearbeitet und den Artikel nur veröffentlicht, um Franz-Josef Strauß zu schaden.
Seit 60 Jahren nun klingen die Berichte über die Bundeswehr so oder ähnlich. Der deutschen Armee fehlt es an Geld, Material und Personal. Die militärische Ausrüstung ist unvollständig und minderwertig. Die Bundeswehr ist nicht einsatzbereit. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Die Bundeswehr wurde kaputtgespart.
Besonders an den letzten Satz haben wir uns so sehr gewöhnt, dass weite Teile der deutschen Gesellschaft ihn nicht mehr hinterfragen. Verteidigungspolitikerinnen sagen diesen Satz mit Inbrunst, Journalisten schreiben ihn auf, Chefredakteure veröffentlichen ihn auf ihrer Webseite. Selbst „Militärexperten“ in Gestalt von Professorinnen und Professoren der Bundeswehr-Universitäten benutzen dieses Wort: „kaputtgespart“. Manch einer weiß auch, wer an alledem schuld ist: Die Linken. Die Pazifisten. Die Studenten. All die langhaarigen Öko-Arschlöcher, die unsere Bundeswehr auf dem Gewissen haben.
Besenstiele statt Waffenrohre
Kaputtgespart. Die Berichte sind in der Tat verheerend. Wer das Wort „Besenstiele“ auf Google eingibt, bekommt das Wort „Bundeswehr“ ergänzt. Es gibt diesen Bericht aus dem Jahr 2015, der so lächerlich ist, dass man ihn kaum glauben kann: Bei einer NATO-Truppenübung sollen Bundeswehrsoldaten schwarz lackierte Besenstiele an ihre gepanzerten Wagen geklebt haben, um Waffenrohre zu simulieren. Die Bundeswehr wiegelt gegenüber dem ‚Spiegel‘ ab. In einem internen Bericht beschweren sich Soldaten über fehlende Pistolen, Gewehre und Nachtsichtgeräte. In einem anderen Bericht heißt es, 60% der neu angeschafften Systeme seien funktionsunfähig. Den Soldaten in Litauen fehlt es an Winterkleidung. Bei Minus 20 Grad. Der Generalleutnant und Inspekteur des Heeres Alfons Mais ist ungewohnt deutlich: „Das Heer steht mehr oder weniger blank da.“ Die Wehrbeauftragte Eva Högl kann die Frage, ob die Bundeswehr einsatzbereit ist, nicht mit „Ja“ beantworten.
In diesem Zusammenhang von „kaputtgespart“ zu reden, ist einfach. Aber möglicherweise falsch.
Wenn „kaputtgespart“ bedeutet, dass man planlos und unbesonnen oder aber willentlich, arglistig oder gar hinterrücks eine perfekt funktionierende Bundeswehr kaputtgemacht hat, dann ist „kaputtgespart“ das falsche Wort. Wenn „kaputtgespart“ bedeutet, dass man unter Abwägung von Kosten, Nutzen und Risiken, sowie unter Anhörung von Reform- und Strukturkommissionen, Experten-Gremien und Verteidigungsausschüssen parteiübergreifend die Abrüstung der Bundeswehr in Friedenszeiten vereinbart hat, dann ist „kaputtgespart“ das richtige Wort. Nur passen dann die langhaarigen linksgrünen vulgärpazifistischen Öko-Terroristen nicht so gut ins Bild.
Abrüstung in Friedenszeiten
Die finanzielle und personelle Ausstattung der Bundeswehr ist ein eigener Mikrokosmos. Wer tiefer eintaucht, muss sich mit PSM (Personalstrukturmodell), KResBW (Konzeption für die Reservisten und Reservistinnen der Bundeswehr), KdR (Konzeption der Reserve), VPR (Verteidigungspolitische Richtlinien) und vielen weiteren Abkürzungen auseinandersetzen. Dazu kommen ein Dutzend Weißbücher, Reformen, Transformation und Neuausrichtung. Es ist alles furchtbar dröge. Möglicherweise ist das auch einer der Gründe, warum sich niemand so recht damit auseinandersetzen mag.
Am einfachsten ist es, in der wiedervereinigten Bundesrepublik anzufangen. Nach der Wiedervereinigung und der Zusammenlegung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee waren unvorstellbare 509.100 Soldatinnen und Soldaten Teil des deutschen Militärs. Im Zwei-Plus-Vier-Vertrag wurde, um ein potenzielles kraftstrotzendes Deutschland einzuhegen, eine Abrüstung auf eine Personalstärke von 370.000 Personen vereinbart. Zahlreiche Waffen wurden daraufhin verschrottet, Munition entsorgt, Patrouillenboote, Kampfhubschrauber und Schützenpanzer aus den Beständen der NVA an NATO-Partner und Drittstaaten verkauft. Es wurde abgerüstet und Personal abgebaut.
Die sogenannte Weizsäcker-Kommission erarbeitete im Jahr 2000 einen IST- und SOLL-Zustand der Bundeswehr und untersuchte die sicherheitspolitischen Ziele der Bundesrepublik. Im Anschluss daran wurde die Bundeswehr auf 250.000 Personen reduziert. Zehn Jahre später erarbeitete eine Strukturkommission die „Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr“ und mit ihr die Empfehlung die Bundeswehr auf 180.000 Berufssoldatinnen und -soldaten zu reduzieren. Dabei ist es bis heute geblieben. Aktuell leisten 183.758 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst an der Waffe.

Die Zahl der Streitkräfte wurde auf Basis des Zwei-Plus-Vier-Vertrags und aus politischen, strategischen und strukturellen Gründen von 509.100 auf 183.758 reduziert. Aus den gleichen Gründen sanken auch die Militärausgaben der Bundesrepublik. Durch fehlende innere und äußere Feinde und das Ende des Warschauer Paktes strich Deutschland eine sogenannte „Friedensdividende“ ein – in Form sinkender Militärbudgets. Ebenfalls aus politischen, strategischen und strukturellen Gründen.
„Friedensdividende“, „Personalstrukturmodell“ und „Verteidigungspolitische Richtlinie“ klingen nicht so knackig wie die Litanei von der „kaputtgesparten“ Bundeswehr. Dass diese Litanei nun besonders laut von der CDU/CSU-Fraktion erhoben wird, die in der wiedervereinigten Bundesrepublik in 24 der 32 Jahre das Verteidigungsressort und in 16 der 32 Jahre das Finanzressort führte, sowie unter eigener Regie die Truppengröße verkleinerte und die Wehrpflicht abschaffte, ist wahlweise mit besonders feinsinnigem Humor oder mit schlichter Charakterlosigkeit erklärbar.
Kaputtgespart mit 46,93 Mrd. Euro
Nachdem in den 2000er Jahren der Verteidigungsetat stagnierte, ist seit 2014, dem Jahr der Annexion der Krim durch Russland, eine deutliche Trendwende zu spüren. Von 32,44 Mrd. Euro stieg der Verteidigungshaushalt auf 46,93 Mrd. im Jahr 2021. Eine Steigerung um 44,67%. Die Militärausgaben Deutschlands waren im Jahr 2020 die siebthöchsten der Welt. Auch das sollte man berücksichtigen, wenn man nun von „kaputtsparen“ spricht.

Der Wehretat ist, von den Corona-Hilfen des vergangenen Jahres abgesehen, der drittgrößte Posten im Bundeshaushalt. 8,57% der gesamten Ausgaben des Bundes gingen vergangenes Jahr an die Streitkräfte. Allein 18,3 Mrd. Euro flossen in das Rüstungswesen, 1,5 Mrd. Euro mehr als im Vorjahr. Das mag für eine moderne Armee wenig sein, ist dennoch sehr viel Geld dafür, dass Soldaten mit angemalten Besenstielen an NATO-Übungen teilnehmen müssen.
Rüstungsberichte als Hiobsbotschaften
Die Nachrichten zur Ausrüstung der Bundeswehr sind mit „Hiobsbotschaften“ noch einigermaßen freundlich umschrieben. Von 97 Großgeräten, die im Jahr 2017 ausgeliefert wurden, konnten nur 38 genutzt werden. Bei 71 Panzern funktionierten nur 27, von den acht A400M, den großen Transportfliegern, mit denen die afghanischen Ortskräfte ausgeflogen wurden, war nur die Hälfte einsatzbereit. Bei Auslieferung im Neuzustand wohlgemerkt. Dabei kann sich die Bundeswehr glücklich schätzen, wenn sie selbst kaputtes Material geliefert bekommt.
Laut dem 14. Rüstungsbericht des Verteidigungsministeriums liegt die Lieferverzögerung beim „Eurofighter“ bei 32 Monaten, beim Schützenpanzer „Puma“ bei 69 Monaten, bei der Fregatte Klasse 125 bei 70 Monaten, beim Hubschrauber NH90 TTH bei 134 Monaten, beim Transportflugzeug A400M bei 162 Monaten. Die Mehrkosten belaufen sich allein bei den hier genannten Großgeräten auf insgesamt 13,28 Mrd. Euro. Mehrkosten. Also zusätzlich (!) zu den Kosten für das Gerät selbst. Und dann funktioniert die Scheiße nicht einmal. Weil die Bundeswehr die Digitalisierung verschlafen und aus Budgetgründen keine sicheren Funksysteme eingekauft hat, mussten die alten Funkanlagen derart lange laufen, dass die Ersatzteile knapp wurden. Die Lösung: Der Hersteller Thales baut die Funkgeräte aus dem Jahr 1984 nach. Für 600 Millionen Euro. Kein Witz.
600 Millionen hier, 13 Milliarden da. Sagen wir mal so: Das läppert sich.

Und dann ist da noch die sogenannte Berateraffäre der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, CDU, und ihrer Staatssekretärin Katrin Suder. Unter Suder, die den Rüstungsbereich reformieren sollte, wurden auffällig viele Projekte an Beratungsunternehmen wie Accenture und McKinsey vergeben. Später kam heraus, dass Suder und Timo Noetzel, ein Accenture-Berater, der die Bundeswehr-Aufträge für seine Firma von 459.000 Euro auf 20 Millionen steigerte, auch privat miteinander verbunden sind. Suder ist Taufzeugin eines Kindes von Noetzel. Beide arbeiteten früher bei McKinsey.
McKinsey wiederum machte mit verschachtelten Firmenkonstruktionen, Sub- und Tochterunternehmen viele halbseidene Millionen Euro Umsatz mit der Bundeswehr. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss konnte sich Suder an vieles nicht erinnern, was sie belastet hätte. Von der Leyen konnte bei der Aufklärung ebenfalls nicht mithelfen, weil sie zwischenzeitlich die Daten auf ihrem Telefon unwiederbringlich löschen ließ.
Gestern erst veröffentlichten WDR, NDR und SZ, dass die Bundesmarine völlig überteuerte Tankschiffe gekauft habe. Möglicherweise wurden 250 Millionen Euro zu viel gezahlt. Im Zentrum der Affäre steht, wieder einmal, das Beschaffungsamt der Bundeswehr. Experten dieser zentralen Einkaufsabteilung sollen vor „deutlich überzogenen“ Preisen gewarnt haben. Die Leitung des Hauses soll allerdings an dem Projekt festgehalten und in einem internen Schreiben die Mitarbeiterinnen aufgefordert haben, die Entscheidung für das Projekt „loyal mitzutragen“.
Die Ausrüstung der Neonazis
Als sei all dies noch nicht genug, sind da noch die Neonazis. Als die rechtsextremen Skandale innerhalb der Bundeswehr eine Größenordnung annehmen, die politisch nicht mehr tragbar ist, sieht sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gezwungen eine Kompanie der Eliteeinheit KSK aufzulösen. In diesem Zuge wird öffentlich, dass Bundeswehrangehörige massenweise Munition unterschlagen haben. Bei der KSK war man über eine mögliche Munitionsprüfung derart besorgt, dass die Führungskräfte eine wochenlange „Amnestie“-Aktion einführten: Wer geklaute Munition zurückbrächte, müsse keine Konsequenzen fürchten. Daraufhin kam allerdings mehr Munition zusammen als anfangs vermisst wurde. Was nun ein noch größeres Problem darstellte. Die Bundesregierung berichtet von 46.400 Munitionsartikeln, die allein im Rahmen dieser „Amnestie“-Aktion gezählt werden. Die Bundeswehr-Inventur ist damit ungefähr so seriös wie die Wirecard-Buchhaltung.
Waffen, Munition und Sprengstoff aus Bundeswehr-Beständen finden sich unter anderem bei Mitgliedern der Neonazi-Netzwerke „Hannibal“ und „Nordkreuz“ sowie beim mutmaßlichen rechten Terroristen „Franco A.“ – nur falls sich irgendwer fragt, wo das ganze Zeug wohl abgeblieben ist.
Ein verschwenderischer Umgang mit Geld
Lieferverzögerung, Mehrkosten, kaputte Neuausrüstung, Verstöße gegen Vergaberichtlinien, möglicherweise Korruption und Neonazis, die Ausrüstung stehlen. Keines dieser Probleme lässt sich mit Geld lösen. Nichts von alledem hat mit einer vermeintlich kaputtgesparten Bundeswehr zu tun. Vielmehr scheinen Verteidigungsministerium, Bundeswehrführung und Beschaffungsamt seit 60 Jahren überfordert zu sein mit den vielen Milliarden Euro, die die Bundeswehr jedes Jahr erhält, um die Sicherheit unserer Heimat zu gewährleisten und dieses Land gegen seine Feinde zu verteidigen.
Nur damit wir uns nicht falsch verstehen. Ich plädiere für eine starke Bundeswehr. Ich habe in einem Artikel für ‚Die Zeit Christ & Welt‘ dargelegt, warum Frieden und Freiheit nur mit militärischer Abschreckung zu gewährleisten sind. In einem Artikel für die ‚Krautreporter‘ habe ich die lange Geschichte der russischen Angriffskriege nachgezeichnet, auf die viel zu lange rein diplomatisch reagiert wurde. Das Gerede von der kaputtgesparten Bundeswehr ist dennoch gefährlich, weil sie die strukturellen Probleme innerhalb der Bundeswehr verharmlost und diejenigen, die für diese Misere verantwortlich sind, nur allzu leicht davonkommen lässt.
Die vielbeschworene schwäbische Hausfrau würde an dieser Stelle feststellen, dass eine Bundeswehr, die mit 18 Mrd. Euro nicht ordentlich wirtschaftet, auch mit 50 Mrd. oder 100 Mrd. Euro verschwenderisch umgehen wird.
Leider hat sie meistens recht.