Weil es häufig heißt, die Debatten in den „Sozialen Medien“ würden „da draußen“ niemanden interessieren:
Ich musste meine Mutter eine ganze Stunde lang davon überzeugen, sich beim Hausarzt mit AstraZeneca impfen zu lassen. Weil sie Angst hatte.
Sie hat es schlussendlich getan und ich bin sehr froh drum.
Nicht alle, die sich nicht impfen lassen wollen, sind erbitterte Impfgegner. Manche haben Angst, manche haben keine Ahnung. Von alledem sind natürlich – mal wieder – Arme, und unter diesen: Migrantinnen, besonders betroffen.
Was ist mit den Menschen in diesem Land, die keine Kinder haben? Kinder, die ihnen wichtige Zusammenhänge erklären. Kinder, die über Prio- und Risiko-Gruppen aufklären. Kinder, die sich Ängste und Unsicherheiten anhören und versuchen diesen zu begegnen? Während diese Kinder und Enkelkinder all diese Aufgabe übernehmen, während sie übersetzen, Hausärzte anrufen, Impfstoffe recherchieren und Termine organisieren, verweigert Horst Seehofer öffentlichkeitswirksam eine Impfung mit AstraZeneca. Weil er sich nichts vorschreiben lassen will. Nur um sich anschließend mit einem anderen Impfstoff versorgen zu lassen.
Man kann wohl kaum erahnen, was für eine Katastrophe es ist, wenn eine öffentliche Person wie der Bundesinnenminister Sonderrechte in Anspruch nimmt und ganz offensichtlich einen bestimmten Impfstoff diskreditiert. Das ist nichts anderes als Gift für unsere Gesellschaft.
Diese vielen großen und kleinen Possen um den Impfstoff, die Diskussionen über „Impfdrängler“, über Ärzte-Freunde im wohlhabenden Bekanntenkreis zeigen mal wieder überdeutlich: Die Hauptlast an Corona tragen Arme, Alte und Schwache. Zu den zahlreichen Schlagzeilen der vergangenen Zeit gehören
- „Reiche werden dank Corona reicher, Arme werden ärmer“
- „COVID-19 trifft vor allem Menschen in ärmeren Stadtteilen“
- „Covid-19: Migranten erkranken häufiger. Schuld daran: ihre Armut“
Und dann manifestieren sich all diese Schlagzeilen in einem Telefonat mit meiner Mutter, die mir erzählt, dass sie von Bekannten gehört habe, dass dieser Impfstoff gefährlich sei. Die mich fragt, ob man nach der Impfung erkranken und arbeitsunfähig würde.
Die Angst hat.
Während ich ihr zuhöre, erinnere ich mich an die Schlagzeile: „Mit AstraZeneca impfe ich fast nur noch Akademiker“
In dem Artikel heißt es:
„Ängste lassen sich mit Statistiken nicht beheben. Mit AstraZeneca impfe ich fast nur noch Akademiker, die sich selbst belesen haben.“
Und dann muss ich, zwar kein Virologe, aber zumindest belesener Akademiker, mit meinem gefährlichen zusammengekratzten Halbwissen meiner Mutter erklären, warum dieser Impfstoff gut für sie ist, und noch wichtiger: Warum sie ihrem Hausarzt vertrauen soll.
All das macht mich nachdenklich. Wo bleibt die Bundesregierung? Warum gibt es keine Informationen zum Virus, zum Impfstoff, zur Test- und Impf-Infrastruktur in allen nur erdenklichen Sprachen? Wie teuer können eine Webseite und die dazu notwendigen Übersetzungen sein?
Und wie kann es sein, dass führende etablierte Zeitungen ausgerechnet unserer Bevölkerung eine „Wissenschaftsgläubigkeit“ unterstellen? Was soll das überhaupt sein? Was soll schlecht daran sein? Und was soll die Alternative sein?
Auf ZEIT ONLINE darf sich Thea Dorn darüber beschweren, dass sich die Politik zu sehr auf das „alles dominierende Ziel“ der „Todesverhinderung“ konzentrieren würde. Nun, in immerhin 80.000 Fällen hat die Politik dieses Ziel nicht erreicht. Die Bilanz von Long-Covid ist da noch nicht einmal eingerechnet.
Ich hoffe, dass diese Impfung den Tod meiner Mutter durch dieses Virus verhindern wird. Und auch wenn das manche Schriftstellerin, mancher Chefredakteur, mancher Wissenschaftler anders sehen mag, für mich ist diese „Todesverhinderung“ ein „alles dominierendes Ziel“.
Meine Mutter hat eine Nachbarin. Eine alleinstehende Frau ohne Kinder.
Wir werden morgen miteinander telefonieren.