Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Der Raum ist abgedunkelt. Die Bundeskanzlerin trägt Schwarz. Im Hintergrund die schwarz-rot-goldene Flagge Deutschlands. Angela Merkel weiß um diesen geschichtsträchtigen Moment. Sie klingt bedächtig. Ungefähr in der Mitte ihrer Rede sagt sie Folgendes:
„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann. (…) Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert.“
Erst ein Blick auf das Datum verrät: 23. Februar 2012. Es ist die Gedenkfeier für die Opfer des NSU. Acht Jahre vor dem Anschlag in Hanau. Beinahe auf den Tag genau.
Damals wurde mitten in Deutschland ein terroristisches Netzwerk offenbar, in das Neonazis, Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste verstrickt waren. Im Rahmen der Aufklärung mussten fünf Präsidenten verschiedener Verfassungsschutzämter zurücktreten, neun Parlamente richteten Untersuchungsausschüsse ein, mehrere Angeklagte wurden im Anschluss an einen fünf Jahre währenden Strafprozess verurteilt.
Und dennoch scheint das zentrale Versprechen der Bundeskanzlerin unerfüllt zu bleiben. Die Helfershelfer und Hintermänner des NSU wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht aufgedeckt. Das ist das eine. Das andere sind die Fragen, die sich heute den Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer von Hanau – und nicht nur ihnen – aufdrängen: Hat der Rechtsstaat tatsächlich alles in seiner Macht Befindliche getan, um dem rassistischen und rechtsextremen Terror Einhalt zu gebieten? Hat er alles getan, um einen weiteren Anschlag zu verhindern? Haben alle Verantwortlichen in Politik, Polizei und Medien aus dem kollektiven Versagen im Fall NSU gelernt, um es im Fall Hanau besser zu machen?
Es sind Fragen, die schmerzen. Fragen, die in eine düstere Vorahnung münden. Fragen, für deren Beantwortung man in die Vergangenheit schauen muss.
Im Jahr 2016, vier Jahre nach dem Versprechen der Bundeskanzlerin, erschießt ein Rassist und Rechtsextremist neun Menschen vor einem Einkaufszentrum in München. Trotz der offenen rechtsextremen Gesinnung, die der Täter im Internet zur Schau stellte und trotz der offensichtlich rassistischen Auswahl seiner Opfer, braucht das Landeskriminalamt drei Jahre, um in diesem Terroranschlag ein „politisches Motiv“ zu erkennen. Bis dahin wurde der Vorfall als unpolitischer Amoklauf behandelt.
Im selben Jahr registrieren die Behörden 995 politisch motivierte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Hans-Georg Maaßen, der nach dem NSU-Terror als Präsident des Bundesverfassungsschutzes eingesetzt wurde, um das Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen, sitzt einige Monate nach seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand in einer Talkshow und sagt, dass die Menschen, die Asylunterkünfte angriffen, „überwiegend keine Rechtsextremisten, keine Nazis“ gewesen wären, sondern zur „bürgerlichen Mitte“ gehörten. Zuvor sagte Maaßen auf einer Veranstaltung der CDU: „Ich bin vor dreißig Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“
Im Jahr 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen. Bundesinnenminister Horst Seehofer ist sichtlich bewegt und erklärt auf einer Pressekonferenz, man müsse „den Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpfen, wo immer wir nur können“. Es ist derselbe Seehofer, der zu früheren Zeiten sagte, er würde bis zur „letzten Patrone“ „gegen die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme kämpfen“. Oder aber auch, dass die „Migration die Mutter aller Probleme“ sei und er „Verständnis habe, wenn sich Leute (in Chemnitz) empören“, das mache sie „noch lange nicht zu Nazis“.
Ebenfalls im Jahr 2019 versucht ein Rassist und Antisemit ein Blutbad in einer Synagoge anzurichten. Es ist nicht der Rechtsstaat, der ihn daran hindert, sondern eine Holztür. Im weiteren Verlauf der Tat ermordet er zwei Passanten aus nächster Nähe. Während der Untersuchungshaft kann der Täter beinahe aus dem Gefängnis fliehen. Gegen einen in diesen Fall involvierten Polizisten wird wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt, weil er Beweismittel vernichtet haben soll. Ein anderer Polizist, der ein Sicherheitskonzept für die jüdischen Gemeinden in Hannover erstellt hat, vergleicht auf einer Anti-Corona-Demo die Maßnahmen der Bundesregierung mit dem NS-Regime und fordert seine Kollegen zur Befehlsverweigerung auf. Der sachsen-anhaltinische Innenminister Holger Stahlknecht beklagt später, dass durch den nunmehr erhöhten Schutz der jüdischen Einrichtungen in seinem Land die Polizei nicht mehr bei jeder Anforderung pünktlich zur Stelle sein könne. Als er offen darüber spekuliert mit der AfD zu kooperieren, wird er entlassen.
„Mit Hochdruck“. „Alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende“. „Der Staat mit seiner ganzen Kraft“. „Damit sich so etwas nie wiederholen kann“. Das waren die Worte, mit denen die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen der Opfer des NSU versicherte, dass dieser Staat und seine Repräsentanten den Menschenhass nicht mehr dulden würden. Dass alle, wirklich alle Menschen einen Platz haben in diesem Land, das ihnen Heimat sein und Schutz bieten soll. Nie wieder sollte der Rechtsstaat in dieser Form und mit dieser Wucht versagen.
Und dann Hanau. Eine Stadt in Hessen. Wieder einmal Hessen. In Hessen ermordete der NSU Halit Yozgat in seinem Internetcafé. In Hessen gründete sich der NSU 2.0, aus dem heraus mutmaßlich Polizisten rassistische und rechtsextreme Drohbriefe an ihnen missliebige Personen versenden. In Hessen ermordete ein Neonazi Walter Lübcke. In Hessen beging ein Rechtsradikaler einen Mordversuch an den Eritreer Bilal M. und tötete sich anschließend selbst. In Hessen agierten rechtsextreme Gruppierungen wie „Blood and Honour“, „Combat 18“, „Freier Widerstand Kassel“, „Sturm 18“ oder die „Oidoxie Streetfighting Crew“ jahrelang ungestört unter den wenig wachsamen Augen der Sicherheitsbehörden.
Bereits im Jahr 2006 warnten 13 zivilgesellschaftliche Gruppen in einem gemeinsam verfassten Schreiben vor der wachsenden Gefahr durch die Neonazi-Szene in Hessen. Sie listeten rechtsextreme Anschläge und Vorkommnisse auf, verwiesen auf die Schändungen jüdischer Friedhöfe, auf Gewalttaten gegen Migranten und Andersdenkende und die Organisation rechtsextremer Musikveranstaltungen. Sie stellten konkrete Forderungen und baten die Landesregierung unter Volker Bouffier um Unterstützung im Kampf gegen den Rechtsextremismus.
Wer lange genug sucht, findet zudem eine Vorlesung Theodor Adornos aus dem Jahr 1967. Der große Philosoph spricht in Wien über „den neuen Rechtsradikalismus“ und stellt dabei fest:
„Politische Gruppierungen überdauern Systeme und Katastrophen. In Deutschland scheinen zum Beispiel alte nationalsozialistische Zentren wie Nordhessen, wo es bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine wilde antisemitische Bewegung gab, besonders anfällig zu sein.“
In Hessen nichts Neues. So scheint es.
Nein, dieser Staat hat mitnichten alles in seiner Macht Stehende getan, um den Rechtsextremismus in seine Schranken zu weisen. Dieser Staat zaudert und hadert, er kämpft mit und gegen sich selbst. Er muss zuweilen seine eigene Staatsgewalt bändigen, wenn sie sich wieder in rassistische und rechtsextreme Vorfälle verwickelt. Hochrangige Amtsträger dieses Staates machten über Jahre hinweg nicht den Eindruck, dass es ihnen ernst wäre mit dem Kampf für eine offene und vielfältige Gesellschaft. Im Gegenteil.
Derselbe Bundesinnenminister Seehofer, der bis zur letzten Patrone gegen die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme kämpfen wollte, sagte im Jahr 2018, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Sein Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, möchte im Jahr 2019 „1.000 Nadelstiche gegen die Clankriminalität“ setzen. Und ja, man müsse dabei aufpassen, dass nicht ganze Volksgruppen kriminalisiert würden, aber man müsse auch warnen, vor einer „Verharmlosung der Shisha-Bar-Romantik“. Im Jahr 2020 sagt derselbe Reul im O-Ton:
„Ich bin mir bewusst ausländerfeindliche Ressentiments zu bedienen und ganze Familien in Sippenhaft zu nehmen. Das stimmt. Das ist das Problem. Aber die Chancen sind größer als die Risiken.“
„Letzte Patrone“. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. „1.000 Nadelstiche“. „Clan-Kriminalität“. „Shisha-Bar-Romantik“. „Ausländerfeindliche Ressentiments“. „Kriminalisierung ganzer Volksgruppen“. Das Wissen über Rechtsextremismus ist da. Es scheint nur im falschen Teil des Gehirns abgespeichert zu sein.
Als in Hanau ein Rassist seine Patronen einpackt und Menschen ermordet, denen er nicht zugesteht, dass sie zu Deutschland gehören, der als Tatorte Shisha-Bars auswählt und der Jagd auf diejenigen macht, bei denen er eine Zuwanderungsgeschichte vermutet, berichten Journalistinnen und Journalisten in der Tatnacht in völliger Verkennung der Lage und in beeindruckender Analogie zur früheren NSU-Berichterstattung. Sie vermuten alles, nur eben keinen rechtsextremen, rassistischen Mord. Bei der WELT heißt es, Hanau sei „dafür bekannt, dass es Auseinandersetzungen im Milieu gibt“. Eine ihrer Quellen „vermutet, dass die Spielautomaten-Mafia hinter dieser Sache stecken könnte“. Die BILD möchte „aus relativ gut unterrichteten Quellen“ erfahren haben, „dass es sich bei dem Täterumfeld um Russen handeln könnte“. Sie spekuliert über „Drogenmilieu“ und „Schutzgeldzahlungen“. Der FOCUS titelt „Erste Bilder nach den Shisha-Morden“. Man ist beinahe froh, dass die Medienschaffenden in Hanau zum Tatzeitpunkt keine Döner gesichtet haben.
Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Der Raum ist abgedunkelt. Kemal Kocak trägt Schwarz. Im Hintergrund die schwarz-rot-goldene Flagge Deutschlands. Aber auch die Flagge des Landes Hessen und die Flagge der Stadt Hanau. Kemal Kocak weiß vermutlich um diesen geschichtsträchtigen Moment. Er ringt um Fassung und klingt dennoch entschlossen.
Kocak betreibt mit seinem Sohn einen Kiosk in Hanau. Ein Laden, der mehr Anlaufstelle und Zufluchtsort ist als eine reine Verkaufsfläche. Am 19. Februar 2020 stürmt ein Rassist in den Vorraum und tötet Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin und Ferhat Unvar. Anschließend stürmt er in die benachbarte „Arena-Bar“ und erschießt dort Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Kocak kannte alle Opfer persönlich. Er erzählt kurze Anekdoten über sie. Erzählt von ihren Eigenarten und Vorlieben. Erzählt von Mercedes, die immer ihre Musik leiser drehte, wenn er den Laden betrat. Und deren Musik nun verstummt ist. Erzählt von Said Nesar Hashemi, der jedes Mal drei Capri-Sonnen und zwei Naschtüten haben wollte. Er erzählt von sich selbst. Von seiner Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Hanau. Erzählt von seiner Angst, die er nun verspürt. Und er richtet sich an die anwesenden Politikerinnen und Politiker:
„Ich möchte, von meiner Seite aus und genauso wie die Angehörigen, nicht mehr viele Worte hören, sondern wir wollen Taten sehen, dass was passiert, dass so was nie wieder zustande kommt.“
Taten statt Worte. Ein Rechtsstaat, der seine Bürger schützt. Auch jene, die in ihrer eigenen Heimat zu Fremden gemacht werden. Kocak weiß wohl selbst, dass dieser fromme Wunsch zu viel verlangt sein könnte. In einem Zeitungsinterview zeigt er sich zutiefst enttäuscht über das ständige Scheitern des Rechtsstaats im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Er erwähnt die rassistischen Anschläge in den 1990er Jahren in Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Fragt nach den kapitalen Ermittlungsfehlern im Falle des NSU. Wundert sich über den Unwillen und die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.
Bei der Gedenkfeier für die Opfer des NSU vor neun Jahren sagte Angela Merkel Folgendes:
„Mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Die Sicherheitsbehörden benötigen Partner: Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen – eine starke Zivilgesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen. Sie beruht darauf, dass sich jeder mitverantwortlich für das Ganze fühlt, dass jeder seinen persönlichen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leistet.“
Wer an den Terror des NSU denkt, hat zumeist das Bild der beiden kahlgeschorenen Uwes vor Augen. Dazu Beate Zschäpe bei Gericht mit ihren Verteidigern Sturm, Stahl und Heer. Die Gesichter und die Namen der Opfer hingegen bleiben weitestgehend blass. Und auch das Schicksal der Hinterbliebenen ist den meisten Menschen wohl größtenteils unbekannt. Lange Zeit bestimmten die Täter Ikonographie und Erzählung im Anschluss an ihre rassistische Tat. Dies war bei früheren Anschlägen in Deutschland genauso wie beispielsweise bei den Terrorakten in Christchurch und Utøya.
Das ist in Hanau anders. Und dass es so ist, hat wiederum ganz erheblich mit der von Angela Merkel beschworenen Zivilgesellschaft zu tun.
In Hanau hat sich die Initiative 19. Februar gebildet, die die Angehörigen unterstützt und ihnen eine Anlaufstelle bietet. Eine echte physische Anlaufstelle mit einem Gedenkraum, in dem sich die Hinterbliebenen treffen können. Die Initiative koordiniert Presseanfragen, vermittelt Gesprächspartnerinnen und sammelt Spenden. Sie fordert öffentlich Aufklärung, Konsequenzen und Prävention. Sie etablierte den Hashtag #Saytheirnames, um die Namen der Opfer auf den sozialen Medien trenden zu lassen. Auf der professionell gestalteten Webseite lassen sich Bilder und Plakate ausdrucken, dort findet man zudem Terminankündigungen zu Aktionen und Demonstrationen. Die Initiative verpflichtet sich die Erinnerung an diejenigen Menschen lebendig zu halten, die diesem rassistischen und Anschlag zum Opfer fielen. Zeitgleich rief die Mutter des verstorbenen Ferhart Unvar die „Bildungsinitiative Ferhart Unvar“ ins Leben, die sich der antirassistischen Bildungsarbeit verschrieben hat. Der Name ihres Sohnes steht nun für Aufklärung und Weltoffenheit. Den Namen des Täters kennt hingegen kaum jemand.
Die Bundesregierung hat mittlerweile einen Kabinettsausschuss ins Leben gerufen, der sich um Maßnahmen- und Gesetzespakete bemühen soll, die dem Rassismus und dem Rechtsextremismus in diesem Land Einhalt gebieten. Vor dem Hintergrund, dass sich einzelne Mitglieder des Bundeskabinetts allerdings an anderer Stelle expressis verbis gegen Studien zu Rassismus und Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden wehren, erscheint das Bemühen der Bundesregierung nicht vollumfänglich authentisch oder gar redlich.
Wie es wohl nun weitergeht? Politisch? Gesellschaftlich? Wann es die nächste Gedenkveranstaltung geben wird?
Wann immer es sein mag, hoffentlich fragen wir uns dann nicht, was wir aus dem Kollektivversagen im Fall Hanau gelernt haben.