Vielleicht ein letzter Gedanke vor dem Schlafengehen:
Meine Eltern sind aus einem Land geflohen, in dem eine buddhistische Mehrheitsgesellschaft eine hinduistische Minderheit bitter unterdrückt hat, woraufhin die Hindus irgendwann mit grausamem Terror reagiert haben. Im damaligem Nachbarland herrschte zu dieser Zeit wiederum ein hinduistischer Fundamentalismus, der die muslimische Minderheit verfolgt hat und bis heute über mehrere Pogrome hinweg vernichten will. Ich sage das alles, um zu verdeutlichen, wie bescheuert es ist, eine einzelne Religion für Verfolgung, Terror und Morde verantwortlich zu machen.
Mir persönlich ist der Islam übrigens völlig wumpe, ich selber bin nämlich Christ. Aus diesem Christentum und dem Grundgesetz leitet sich mir das fundamentale Recht auf Leben ab, das Terroristen, Extremisten, Islamisten im Kern verletzten. Das können und dürfen wir nicht zulassen. Dagegen mit aller Kraft vorzugehen ist unsere Bürgerpflicht.
Kein vernünftig denkender Mensch könnte auch nur im Ansatz diese Taten gutheißen oder relativieren, könnte ernsthaft der Meinung sein, dass diese mörderischen Gewaltakte unbeantwortet bleiben können. Und ja, es gibt ein Problem mit islamistischem Fundamentalismus. Darüber muss man reden und darüber muss man reden dürfen. Dass dies aber nicht geschehen würde und nie geschehen wäre, ist völliger Quatsch und eine böse Verleumdung.
Wunderbare Menschen wie Bubu Yilmaz setzen sich seit Jahren für einen offenen friedlichen Islam ein. Für sein Projekt mit jungen Muslim*innen nach Auschwitz zu fahren und dort die deutsche Geschichte, aber auch den Antisemitismus in der eigenen Community zu problematisieren, hat er jüngst völlig zurecht das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Dass dieses und ähnliche Projekte nicht ausreichen, das scheint offensichtlich. Dass man mehr machen muss, Dinge auch anders machen muss, darüber kann und muss man reden. Genauso übrigens wie über Gewalttaten durch Flüchtlinge und Migranten und Kriminalität durch Zuwanderer.
Aber eines kann man in all diesen Zusammenhängen doch kaum verschweigen können: Die eklatante und permanente Ausgrenzung von Menschen, die vermeintlich oder tatsächlich dem muslimischen Glauben angehören. Neben kluger Polizeiarbeit und ja, auch hartem Vorgehen gegenüber Straftätern, braucht es doch Konzepte für ein friedliches Zusammenleben. Sozialarbeit, Bildungsperspektive, solche Sachen. Das ist doch das ALLERERSTE, was man im Fach Kriminologie lernt.
Wenn es etwas gibt, was religiöse Fundamentalisten hassen, dann ist es das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationen und unterschiedlichen Glaubens. Weil man ihnen dadurch die Grundlage für ihren Hass und ihre Spaltung entzieht.
Und wer sich angesichts 20.000 ertrunkener Menschen im Mittelmeer, angesichts 20.000 Menschen in Moria, angesichts der Brandanschläge in den 1990ern, Döner-Morden in den 2000ern und der noch immer andauernden Ausgrenzung heute über das Wort „Hölle“ echauffiert, hat vielleicht einfach nicht verstanden wie es ist, in diesem Land, auf diesem Kontinent zu leben und permanent das Gefühl zu haben als Mensch 2. Klasse unterwegs zu sein. Nur weil man nicht das Glück hatte mit seiner Familie schon immer hier gewesen zu sein.
Dass man Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens nicht genauso behandelt wie andere, ist doch kein Zustand, den man leugnen könnte, der so bleiben könnte. Oder gibt es hierzu mehrere Meinungen?
Es ist alles hochgradig kompliziert.
Was man bräuchte, wäre ein Innenminister, der klug und weise den Islamismus entschieden bekämpft ohne die Muslime mit dem Bade auszuschütten. Von Horst Seehofer habe ich aber noch das Zitat „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ im Ohr.
Tja.
Nun sind Menschen gestorben, andere verletzt, Familienangehörige werden fehlen. Für immer. Es ist nichts geringeres als eine Tragödie.
Wie wenig es allerdings um die Opfer geht, zeigte sich heute in der gesammelten Medien- und Meinungslandschaft. Während kurz nach Bekanntwerden der Anschläge über Nizza und Avignon diskutiert und kommentiert wurde, fiel Avignon irgendwann komplett aus der Debatte heraus. Und ja, der Anschlag in Nizza war deutlich schwerwiegender, aber man könnte durchaus auf den Gedanken kommen, dass Avignon just in dem Moment uninteressant wurde als sich der Islamist dort als Rechtsextremer entpuppt hatte. Wie zynisch, wie menschenverachtend wäre das?!
Andererseits, wie deutlich würde sich das mit der Berichterstattung von Zeitungen decken, die immer nur dann „groß aufmachen“, wenn es um den Islam geht und andere Gefahren unseres Zusammenlebens konsequent unter den Tisch fallen lassen?
Beispiel gefällig? Hat irgendjemand mitbekommen, dass Corona-Leugner heute einen Terroranschlag begangen haben? In Deutschland? In der Hauptstadt gar? Samt Bekennerschreiben? Was wohl los wäre, wenn dies Islamisten gewesen wären?
Dass im Laufe dieser Debatte nun auch noch infrage steht, ob Menschen ihr Menschsein verwirken können, ist ein äußerst bedauerlicher Diskussionsstrang, den man schnellstmöglich abkappen muss. Nein, Menschen sind keine Tiere, keine Bestien. Sie verlieren niemals ihr Menschsein, ihre Menschenwürde und ihre Menschenrechte. Darauf sollten wir uns einigen können. Wenn allerdings selbst das nicht mehr möglich ist, haben wir ein ganz anderes, deutlich schwerwiegenderes Problem.
Das Menschsein ist es übrigens, das es uns ermöglicht diese Taten nicht als naturgegeben hinzunehmen, sondern Menschen für diese Grausamkeiten verantwortlich zu machen, sie zur Verantwortung zu ziehen, sie zu bestrafen. Es ist ein Wahnsinn, das ernsthaft erklären zu müssen.
Ich bin ehrlicherweise ratlos. Wie so oft in letzter Zeit.
Man muss diese Taten verdammen, die Strukturen bekämpfen, allerdings nicht alle Muslime verunglimpfen oder gar ihren Glauben kriminalisieren. Den Opfern und Angehörigen beistehen. Eine Nation versöhnen. Die Täter der gerechten Strafe zuführen. Bei alledem die Menschenrechte wahren und transparent und fair über alles berichten. Ich dachte, darauf könnte man sich einigen.
Aber vielleicht habe ich auch falsch gedacht.
Ich bin müde.